Lesen ist ein Wunder

Was hast du vor dir, wenn du ein Buch aufschlägst? Kleine, schwarze Zeichen auf  hellem Grunde. Du siehst sie an, und sie verwandeln sich in klingende Worte, die erzählen, schildern, belehren. In die Tiefe der Wissenschaft führen sie dich ein, enthüllen dir die Geheimnisse der Menschenseele, erwecken dein Mitgefühl, deine Entrüstung, deinen Hass, deine Begeisterung. Sie vermögen dich in Märchenländer zu zaubern, Landschaften von wunderbarer Schönheit vor dir entstehen zu lassen, dich in die sengende Wüstenluft zu versetzen, in den starren Frost, der Eisregionen. Das Werden und Vergehen der Welten vermögen sie dich kennen, die Unermesslichkeit des Alls dich ahnen zu lassen. Sie können dir Glauben und Mut und Hoffnung rauben, verstehen, deine gemeinsten Leidenschaften zu wecken, deine niedrigsten Triebe als die vor allen berechtigten zu feiern. Sie können auch die gegenteiligen, die höchsten und edelsten Gedanken und Gefühle in dir zur Entfaltung bringen, dich zu großen Taten begeistern, die feinsten, dir selber kaum bewussten Regungen deiner Seele in kraftvolle Schwingungen versetzen. Was können sie nicht, die kleinen schwarzen Zeichen, deren nur so geringe Anzahl ist, dass jedes einzelne von ihnen alle Augenblicke wieder erscheinen muss, wenn ein Ganzes gebildet werden soll, die sich selbst nie, sondern nur ihre Stellung zu der ihrer Kameraden verändern! Und hinter die Rätsel diese Eigenschaft, die Ihnen anhaftet, zu kommen und den Weg zu ihren Geheimnissen zu eröffnen, wird einem Kinde zugemutet, und ein Kind vermag´s!

Wenn das nicht ein Wunder ist!

Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916)
aus "Sämtliche Werke, Bd. 4. Paetel, Berlin, 1912"

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