Maiensonntag

Früh um vier bin ich erwacht,
hatte eine schlechte Nacht,
träumte einen bösen Traum.
Lieg` nun im Bett mit dumpfem Sinnen;
lass` die Zeit vorüberrinnen;
Finsternis erfüllt den Raum.
In mir beginnt`s zu überlegen,
was sich alles heut` soll regen.
Sind die Pflichten schon bereit?
 Doch dann schleicht in meine Dösung
Lebensfreude und Erlösung:
 Es ist Sonntag, ich hab` Zeit.
Langsam beginnt die Nacht zu bleichen,
böse Träume, Sorgen weichen.
Ist da nicht ein Sonnenstrahl?
Nicht mehr länger kann ich liegen,
denn der Tag, die Freude siegen,
die Sonne lässt mir keine Wahl.
Schnell mach` ich mich aus den Kissen.
 Waschen, barten, ein paar Bissen,
dann verlasse ich das Haus.
Auf der Strasse gähnt die Leere,
 worüber ich mich nicht beschwere,
 denn ich will ins Land hinaus.
 Zügig lenk` ich meine Schritte,
 bleibe in der Straßenmitte,
 denn es stört noch kein Verkehr.
 Und nach einer knappen Stunde
seh` ich in der weiten Runde
nichts mehr von dem Häusermeer.

Seh` nur noch Äcker, Wiesen, Bäume,
blauen Fluss und weite Räume;
bin mitten drin in der Natur.
Denk` nicht mehr an Arbeit, Mühe
und den Chef, der in der Frühe
jedes Tages schon spielt stur.
Kirschbäume blüh`n und Aprikosen.
In der Ferne leises Tosen;
es ist im Bach der Wasserfall.
Ein Rabe krächzt sein Lied vom Morgen
und ein Kuckuck, voller Sorgen,
hört eig`nen Ruf im Widerhall.
Ich ziehe durch die Wiesen, Auen
und freue mich am Wind dem lauen,
der heut` vielleicht noch Regen bringt.
Ich seh` den Weih am Himmel gleiten
und seh`ein junges Mädchen reiten,
das leise von der Liebe singt.
Die Sonne streichelt mich am Rücken
und ich fühle voll Entzücken,
dass auch in mir die Sehnsucht keimt;
der Wunsch, es möcht` in meinem Leben
noch manchen Maiensonntag geben
und noch mancher Vers sich reimt.
In der Ferne Kirchenglocken,
die das Volk zur Kirche locken,
um zu loben seinen Herrn.
Ich kann das nicht, denn um zu loben
brauch` ich nicht den Turm da droben;
ich find` ihn schöner halt von fern!

Und ich brauche nicht die lauten
Menschen, die den Turm dort bauten,
denn sie loben mir zu laut.
Und die Kirche, der ich traue
und in die ich gerne schaue,
ist nicht von Menschenhand gebaut.
`s ist die Natur, die Pflanzen, Tiere;
nur die sind`s, nach was ich giere
und was mein altes Herz erfreut.
Nicht etwa, dass ich Menschen meide,
doch schau` ich lieber meine Heide,
die Blumen, die ins Gras gestreut.
Maiensonntag geht zur Neige,
wartet, dass der Mond nun steige
und die rote Sonne sinkt.
Fledermäuse flatternd schwingen;
Nachtigall beginnt zu singen;
Abendstern am Himmel blinkt.
Mit langem Schatten, wie ein Riese,
tritt ein Reh nun auf die Wiese;
wittert in die Abendluft.
Kein anderer Laut durchbricht die Stille,
als das Schlaflied einer Grille.
Wer hier noch stört, der ist ein Schuft.
Drum, um den Zauber nicht zu bannen,
schleich` ich heimlich mich von dannen,
tret` in meine Hütte ein.
Dann such` ich meine alten Kleider,
denn morgen muss ich wieder, leider,
beizeiten auf der Arbeit sein.

© Georg Segessenmann (*1932)