Der Optimist und der Pessimist

Der Optimist hat recht und der Pessimist hat recht.
Der eine unterscheidet sich vom andern wie das Licht vom Dunkel,
aber beide haben recht, jeder von seinem besondern Gesichtspunkt aus.
Dieser Gesichtspunkt ist für jeden der bestimmende Faktor seines Lebens:
er bestimmt, ob es ein Leben voll Macht oder voll Ohnmacht,
voll Friede oder voll Schmerz, voll Erfolg oder Misserfolg sein wird.
Der Optimist besitzt die Kraft, die Dinge in ihrer Gesamtheit
und in den richtigen Verhältnissen zu erblicken,
der Pessimist betrachtet sie von einem beschränkten und einseitigen Gesichtspunkt;
der Verstand des einen ist erleuchtet durch Weisheit,
der des andern verdunkelt durch Unwissenheit.

Jeder baut sich seine Welt von innen heraus auf, aber was bei diesem
Aufbauen herauskommt, ist durch den Gesichtspunkt bestimmt, den er einnimmt.
Der Optimist schafft sich kraft seiner höheren Weisheit und Einsicht
seinen eigenen Himmel, und in dem Grad, als er das tut, hilft er
dazu noch einen Himmel für die ganze Welt schaffen;
der Pessimist schafft sich kraft seiner Beschränkung seine eigene Hölle,
und in dem Grad, als er das tut, hilft er eine Hölle für die ganze Menschheit schaffen.
Du und ich, wir beide haben entweder die besonderen
Eigentümlichkeiten des Optimisten oder die des Pessimisten.
Darum schaffen wir zu jeder Stunde unsern eigenen Himmel und unsre eigene Hölle,
und in dem Grad, als wir das tun, helfen wir beides auch für die ganze Welt schaffen

Das Wort Himmel bedeutet Harmonie.
Das Wort Hölle stammt von einer Wurzel hel, die "mit einer Mauer umgeben" oder "abtrennen" bedeutet; einen " helen " heißt so viel als " einen von etwas abschließen".
Wenn es nun etwas gibt, das wir Harmonie nennen dürfen,
so muss auch etwas existieren, mit dem man im richtigen Verhältnis stehen kann:
denn mit etwas im richtigen Verhältnis stehen, heißt mit ihm in Harmonie sein.
Auf der andern Seite, wenn es etwas gibt, von dem wir sagen können,
dass es abgeschlossen oder abgetrennt sei, so muss auch etwas existieren,
von dem man abgeschlossen oder abgetrennt ist.

Ralph Waldo Trine (1868-1958)

Nachdenkliches